Ein familiärer Frühlingsspaziergang endet in einer Katastrophe, als der kleine Fritz einen Luftballon geschenkt bekommt und diesen unachtsam loslässt. Der rote Ballon steigt in die Lüfte, verfängt sich in der Krone eines Baumes, und die erwachsenen Familienmitglieder versuchen, ihn mit allerlei Hilfsmitteln, zurückzuerobern. Der Ballon wird befreit und schwebt davon. Diverse, an der Rettung beteiligte Gegenstände, hängen nun im Baum, der Hut des Vetters wurde zertreten, die Kinder heulen und der einst glückliche Spaziergang wandelt sich zum Trauertag.
Die durchschnittliche Geschichte gehört zu den weniger beeindruckenden Elementen des Münchener Bilderbogens Nr. 1133 und steht im Schatten der äußerst durchdachten Seitenarchitektur, die mit komplexen temporalen Abläufen einhergeht. Sechs Panels, jedes von ihnen gleich groß, stehen neben einem Text, der sich in ihrer Mitte findet. Einzig zwischen Panel 3 und 4 erfolgt ein textloser Übergang, der einen sehr schnellen Bewegungsablauf nahelegt. Doch auch das Verhältnis von Höhe und Breite der Bilder wirft die Frage nach zeitlicher Darstellung auf, denn die Breite eines Panels bestimmt seine temporale Struktur, wie u. a. Francis Lacassin, aber auch Will Eisner, nachweisen. Francis Lacassin beschreibt in The Comic Strip and Film Language folgende temporale Verhältnisse:
Töpffer opened his M. Vieux Bois (the story of a lovesick old bachelor) with a few strictly uniform-image pages. But he quickly disrupted the scene format, making it alternately “short” and “long.” The former retains the normal shape (1/6th of the page), the latter occupies the space of two scenes: the graphic lengthening of the image corresponds to the chronologically lengthening of the scene. By such alteration, the author suggests movement and duration.[1]
Lacassin erörtert folglich den Zusammenhang zwischen Panelbreite und Temporalität, der sich nicht nur bei Rodolphe Töpffer, sondern nahezu allen westlichen Comics, nachweisen lässt. Ein schmales Panel wäre demnach mit einem kurzen, ein breites mit einem langen Moment gleichzusetzen. Will Eisner beschreibt das Verhältnis von Zeit und Bild wie folgt:
The number and size of the panels also contribute to the story rhythm and passage of time. For example, when there is a need to compress time, a greater number of panels are used. The action then becomes more segmented, unlike the action that occurs in the larger, more conventional panels. By placing the panels closer together, we deal with the “rate” of elapsed time in its narrowest sense.[2]
Eisner nennt folglich auch die Anzahl der abgebildeten Panels als temporalen Faktor, die in Bilderbogen dennoch vernachlässigt werden dürfen. Zu sehr orientiert sie sich an der Größe des Trägermediums und den produktionstechnischen Einschränkungen des 19. Jahrhunderts. Der Zusammenhang von der Höhe eines Panels und seinem innerzeitlichen Verlauf wird dagegen weder von Lacassin noch Eisner näher erläutert.
Um zu klären, ob die schmalen Bilder auch kurze Momente illustrieren, muss der beigefügte Text und sein Verhältnis zu den Illustrationen genauer betrachtet werden, denn die Veränderungen in den Bildern selbst fallen marginal aus. Vorherrschende Induktionsmethoden scheinen Handlungs- und Augenblicksübergänge zu sein. Zudem trennt der Text auch die einzelnen Panels voneinander und sorgt so u. U. für einen größeren zeitlichen Verlauf. Im Gegenzug dazu muss der Übergang von Panel 3 zu 4 kürzer sein, als die üblichen Übergänge.
Ein Blick auf Textabschnitt 2, der die Panels 1 bis 3 beeinflusst, verdeutlicht die Komplexität des temporalen Verlaufs. Strophe 1 bezieht sich auf Panel 1: „Und alle riefen gleich entsetzt: / „O weh – er fliegt – da hast Du’s jetzt!“ / Indes gebot dem Flüchtling bald / Ein Baum mit seinen Ästen halt.“[3] Das Panel zeigt den in der Baumkrone gefangenen Ballon sowie den Vater des Jungen, der bereits seinen Stock gen Himmel schleudert. Strophe 2: „Der Kleine heulte los darauf, / Die andern sah’n zum Baum hinauf / Und dachten emsig hin und her, / Wie der Ballon zu kriegen wär‘.“[4] Der heulende Junge wird erst in Panel 3 abgebildet, Panel 2 zeigt die Ausführung des Stockwurfs, der in Panel 1 begonnen wurde und von dem Strophe 3 und 4 zu berichten wissen: „‚Ich hab’s!‘ sprach kühn der Vater dann / Und schleuderte den Stock hinan. / Der Luftballon erbebte zwar; / Das Ende aber davon war, // Daß auch der Stock jetzt oben blieb – / Das war dem Vater gar nicht lieb. / Denn einen Nutzen hat man kaum / Von einem Stock hoch auf dem Baum.“[5] Zwei Strophen berichten demnach vom Inhalt zweier Panels. Panel 2 bildet neben der zweiten Wurfzeichnung auch sein Ergebnis ab. Es handelt sich folglich um ein Simultanbild, dessen unterer und oberer Teil strikt voneinander zu trennen sind. Strophe 5 findet sich schlussendlich in Panel 3: „Der Vetter sprach: ‚Geduldet Euch! / Die hab‘ ich alle beide gleich!‘ / Er zielte mit dem Finger scharf, / Dann bog er sich zurück und warf.“[6] – Des Vetters Bewegungsphase befindet sich nun im Einklang mit beiden Bildebenen des Panels; Himmel und Erde harmonieren miteinander. Lediglich der kleine Fritz verweist noch auf Strophe 2. Ab Panel 4 folgt der begleitende Text dann den bildlichen Darstellungen. Bewegungsphasen etc. werden nicht voneinander getrennt und somit richten sich die temporalen Übergänge sowohl am Text als auch am Bild aus.
Doch auch die weiteren Textabschnitte beeinflussen die Zeit, wenn auch nicht so drastisch wie im obigen Beispiel. Dieses komplexe Verhältnis soll in einer Tabelle und in einer Zeitleiste verdeutlicht werden.
Panel (P) 1 | P 2 | P 3 | P 4 | P 5 | P 6 | ||
Text (T) 1 | Strophe 5, letze zwei Verse | ||||||
T 2 | Strophe 1; 3 | Strophe 4 | Strophe 2; 5 | ||||
T 3 | Strophe 1; 2 | Strophe 3; 4 | Strophe 6 | ||||
T 4 | Strophe 2 | Strophe 1, 2, 4, 5 |
In der Tabelle verdeutlicht sich, dass die einzelnen Textabschnitte oft auf mehrere Bilder referenzieren und es kommt zu parallelen Darstellungen verschiedener Inhalte. Strophe 1.1 bis 1.4 wurden z. B. nicht illustriert und ergänzen den Bogen um eine Rahmenhandlung. Erst nach dieser Einführung finden Bild und Text langsam zueinander (vgl. auch die Textanalyse des Abschnitts 2). Die Einheit beider Elemente entwickelt sich gemächlich, was durch Doppelbesetzungen wie Text 1 / Panel 1 und Text 2 / Panel 1 besonders hervorgehoben wird. Panel 2 und 3 teilen sich, wie eingangs vermutet, einen Text; dieses Verhältnis löst sich bereits im nächsten Block auf, denn Text 3 beschreibt Inhalte der Panels 4 bis 6, der vierte Text widmet sich den Panels 5 und 6. Zudem verdeutlicht die tabellarische Form auch den abrupten Darstellungswechsel des Bilderbogens. Obwohl der begleitende Text Inhalte mehrere Bilder beschreibt, erzählt er nur auf seiner lokalen Ebene, d. h. sowohl der untere als auch obere Bogenabschnitt referenziert nicht auf den jeweils gegenüberstehenden Abschnitt. Darüber hinaus spiegelt sich das Text- / Bildverhältnis weitestgehend. Eine Doppelbelegung zweier Strophen innerhalb eines Bildes verbirgt sich jeweils im ersten, fünften und letzten Panel des Bogens (P1: T1 / T2; P5: T3 / T4; P6: T3 / T4).
Ein temporales Chaos findet folglich in den ersten drei Panels sowie Panel 5 und 6 statt, was sich auch in der Zeitleiste verdeutlicht. Zwischen Panel 1 und einschließlich Panel 3 sowie Panel 5 und 6 beziehen sich diverse Strophen auf unterschiedliche Panels. Neben der bildlichen Zeit offenbart sich eine schriftliche; Die Strophen 1.5 bis 2.4 folgen keiner fortlaufenden Zeitachse, sondern einer in sich verschlungenen. Erst ab Panel 4 ändert sich die Darstellung. Bild und Text bilden nun eine Einheit mit der Zeit, ehe es in Panel 5 und 6 erneut zu Zeitsprüngen kommt. Lässt sich der Rezipient indes vom Text durch das Bild führen, müssen die Bilder wie folgt erfasst werden: Panel 1, Panel 3, Panel 1, Panel 2, Panel 3, Panel 4, Panel 5, Panel 6, Panel 5, Panel 6.
Vom Text bestimmte zeitliche Sprünge innerhalb der einzelnen Panels lassen zwei Schlussfolgerungen zu: Unter Einbeziehung des Textes werden nur kurze Momente illustriert und der grafische Inhalt des Bilderbogens kann auch ohne begleitende Worte erfasst werden. Somit darf die Analyse der Induktionsmethoden unter Auslassung textlicher Regulierungen vorgenommen werden, denn Panel 1 bis Panel 3 zeigen und illustrieren kurze Momente mit ausführlichen Beschreibungen und textlichen Zeitsprüngen. Erst von Panel 4 bis Panel 6 werden diese Abstände etwas größer – die Panelgröße / ‑höhe indes ändert sich nicht. Es darf also davon ausgegangen werden, dass die Höhe eines Panels für seinen dargestellten zeitlichen Moment irrelevant ausfällt.
Analysetabelle anzeigen …
Münchener Bilderbogen Nr. 1133: Blinder Eifer schadet nur. | |
Panel 1 | Text (T): Es ist Frühling, eine Familie macht einen Ausflug. Der kleine Fritz bekommt einen Luftballon vom Vater geschenkt, die übrige Familie warnt vor dem Geschenk. Fritz ist sich sicher, dass nichts geschehen wird, da entgleitet ihm der Ballon.
Bild (B): Die Familie steht unter einem Baum, in dessen Wipfeln sich der Ballon zu verfangen droht. Zu sehen sind Fritz, der Vater holt aus, um einen Stock zu werfen und der Vetter blickt – wie auch die übrige Verwandschaft – gen Baumkrone. Fokus (F): Ballon. Bildmittelpunkt (BM): Horizont. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 2 | T: Die Familie zeigt sich über das Missgeschick entsetzt. Fritz beginnt zu weinen, die Familie denkt über die Rettung des Ballons nach, während der Vater seinen Stock emporschleudert. Dieser bleibt ebenfalls in der Baumkrone hängen, der Vetter hält nun einen Stock in der Hand und blickt gen Baumkrone.
B: Stock und Ballon befinden sich in der Baumkrone, der Vater befindet sich im Wurf, die übrige Familie schaut weiterhin gen Ballon. F: Ballon und Spazierstock. BM: Horizont. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 3 | T: (kein Text)
B: Alles wie in Panel 2, nun steht Fritz weinend neben seiner Mutter (an seiner ehemaligen Position befindet sich nun eine Art Dose), die versucht, ihn zu beruhigen. Der Vater befindet sich im Hintergrund, während der Vetter ausholt, um einen Stock zu werfen. F: Ballon und Spazierstock. BM: Horizont. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 4 | T: Auch der Stock verfängt sich in der Baumkrone. Fritzens Mutter bittet die Herren, die Rettungsversuche zu beenden, diese lassen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen und werfen den Schirm der Tochter hinterher. Auch dieser verheddert sich im Geäst. Vetter und Vater beginnen zu streiten und werfen alle möglichen Gegenstände ins Geäst des Baumes. Fritz und seine Schwester weinen indes beide.
B: Ballon, Stock und Spazierstock befinden sich in den Wipfeln. Alles andere s. h. Panel 3. Die Mutter fleht die Männer an. Neben der inzwischen umgekippten Dose liegt der Hut des Vetters. F: Ballon, Stock und Spazierstock. BM: Horizont. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 5 | T: Inzwischen gehen die Männer dazu über, Stiefel, Puppen etc. in die Baumkrone zu werfen. In Strümpfen stehen sie unter dem Baum, der Vater zertritt den Hut des Vetters, doch sie halten immer noch an ihrem Vorhaben fest. Ein weiterer Wurf befreit den Ballon, dieser fliegt davon. Die Kinder weinen, das Eigentum der Familie befindet sich in der Baumkrone und der Vetter trauert um seinen Hut.
B: Diverse Gegenstände befinden sich im Geäst des Baumes. Der Vater steht nun links von der Familie und wirft zusammen mit dem Vetter wahllos Gegenstände in die Wipfel. Die Familie weint und betet, der Ballon fliegt davon. Der Hut wird vom Vater zertreten. F: Ein fliegender Schuh. BM: Horizont. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 6 | T: (kein Text)
B: Der Ballon fliegt davon. Gegenstände hängen in den Zweigen. Die Familie steht im Halbkreis unter dem Baum, man weint gemeinschaftlich. An Stelle der Dose und des Huts (dieser befindet sich in den Händen des Vetters) liegt nun der Hut des Vaters. F: Luftballon / Puppe. BM: Horizont. P: Augenhöhe. |
Es zeigt sich, dass der Bogen sich nicht an der westlichen Leserichtung orientiert und der Blick zwischen Text und Bild hin und herspringen muss, um eine logische Abfolge der Handlung zu präsentieren. Das Verhältnis von Text und Bild zeigt sich als enorm verschränkt (s. h. Tabelle zur Bild- / Textverschränkung), gestaltet sich aber dennoch gedoppelt, d. h. der Text wird ohne weitere bildliche Einfälle genau illustriert. Narrationsgruppen sind nicht vorhanden, auf bildlicher Ebene wird sofort die Kerngeschichte illustriert. Anders verhält es sich mit Panelgruppen. Gruppe 1 zeigt den Vater beim Wurf seines Spazierstocks (Panel 1 und 2) und Gruppe 2 präsentiert den Vetter beim Wurf eines weiteren Stocks (Panel 2 und 3). Die einzelnen Panels werden mit Hilfe einer schwarzen Linie quadratisch umrahmt – zwischen den Panels steht der nicht umrahmte Text. Auf der McCloud-Realismusskala befinden sich die Illustrationen im Bereich 40 bis 42 und 54 bis 57, wirken cartoonhaft.
Belege:
[1] Vgl. Lacassin, Francis: The Comic Strip and Film Language. S. 15. 11 – 23.
[2] Vgl. Eisner, Will: Comics and sequential Art. S. 30.
[3] Vgl. Münchener Bilderbogen Nr. 1133: Blinder Eifer schadet nur.
[4] Vgl. Ebd.
[5] Vgl. Ebd.
[6] Vgl. Ebd.