- Münchener Bilderbogen Nr. 193: Der Froschkönig nach Grimm.
- Neue Magdeburger Bilderbogen Nr. 610: Der Froschkönig.
Während eine Prinzessin mit einer goldenen Kugel spielt, entgleitet ihr das kostbare Objekt und fällt in einen Brunnen. Ein Frosch eilt ihr zur Hilfe, bittet sie jedoch darum, ihn als Gegenleistung an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Die Kugel wird wiederbeschafft, der grüne Helfer jedoch vergessen. Einen Tag später klopft es an die Tür – der Frosch verlangt nach Einlass und bittet die Prinzessin, ihr Versprechen einzulösen. Widerwillig teilt sie mit ihm Tisch und Bett, versucht ihn schließlich zu töten, worauf er sich in einen Prinzen verwandelt. Man ehelicht einander und zieht gemeinsam in die Welt hinaus.
Speckters Bogen von 1856 (Der Froschkönig nach Grimm) wurde in Kapitel II. II als prototypischer Vertreter des Metapanels Typ 2 vorgestellt. Strukturell einfach gehalten wird er von unten rechts nach oben links rezipiert und entspricht demnach nur eingeschränkt der westlichen Leserichtung. Die jeweilig illustrierten Handlungselemente befinden sich größtenteils innerhalb der Torbögen oder Fenster des Schlosses, zwei Ausnahmen bilden der Anfang und das Ende der Geschichte sowie zwei Fassadendetails / Wandreliefs, die an Speckters Rapunzel-Bogen von 1857 erinnern.[1] Ein begleitender Text befindet sich in zwei Textfeldern – der Hauptteil der Geschichte steht innerhalb des Felsenfundaments, der zweite Teil auf der Brunnenmauer, an der die Prinzessin lehnt.
Das erste Fassadendetail zeigt den Titel des Märchens und eine Quellenangabe („Der Froschkönig nach Grimm“). Diese Verzierung des Balkons klärt den Sachverhalt zur ikonischen Differenz von Text und Bild innerhalb der Bilderbogenrealität, die im Bogen Rapunzel nach Grimm von Otto Speckter 1857 (Münchener Bilderbogen Nr. 193) aufgeworfen wurde. Während der Märchentext nur für den Leser, nicht aber für die handelnden Personen innerhalb des Bogens existiert, muss der Schriftzug als Teil der Bildrealität gewertet werden, denn er ist in Stein gemeißelt. Betrachtet man nun erneut das Spruchband im 1857er Bogen, so verdeutlicht sich ihr Sprechblasencharakter. Speckter unterscheidet folglich sehr genau, ob es sich bei einem Text – der sich darüber hinaus auch hier in einem geschwungenen Band befindet – um innerbildliche Realität handelt.
Ein zweites Fassadendetail zeigt den ruhenden Froschkönig und eine Hexe. Wie auch in Rapunzel nach Grimm von Otto Speckter 1857 wird ein Teil der Geschichte innerhalb eines Fassadendetails erzählt. Beide Reliefs zeigen eine Hexe als handelnde Person – während der Rapunzelbogen von 1857 einen unaussprechlichen Akt thematisiert (das eigene Kind wird als Zahlungsmittel zur Befriedigung temporärer Bedürfnisse verwendet), verweist Speckter auf einen Handlungsabschnitt, der vor dem Märchen stattfindet und nur kurz erwähnt wird: „Da erzählte er [Anm. JA: Der erlöste Königssohn] ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein“.[2] Beide Handlungen sind hier also – nicht nur metaphorisch – in Stein gemeißelt. Über dem Haupte von Dornröschens Mutter, deren Verzweiflung in der Lesart des Speckter’schen Bogens den Menschenhandel erst auslöst, befindet sich die daraus resultierende Folgehandlung innerhalb des Fassadendetails. Es wird somit ein Blick in die Zukunft gewährt. Verzweiflung ob der vorübergehenden Unfruchtbarkeit steht der Verzweiflung um den Verlust des Kindes gegenüber. Im Froschkönig hingegen wurde die Verzauberungssequenz über der Erlösungsszene platziert, die Verwandlung vom Frosch zum Menschen geschieht folglich zwischen den Bildern mit Hilfe der Induktion (in diesem Fall: Von Szene zu Szene). Zwei magische Akte, deren Magie derselben Natur entspring: Die Hexe handelt aus Boshaftigkeit, während sich das Königskind in einer aussichtslosen Situation befindet, denn die Tochter des Hauses wurde zum metaphorischen Beischlaf mit dem verzauberten Königssohn gezwungen und wirft ihn aus Furcht und Ekel an die Wand (die Froschhülle, aus der sich der Prinz befreit, lehnt übrigens an der Wand). Die Funktion des Wandreliefs entspricht hier dem Blick in die Vergangenheit.
Speckter setzt in diesen Bildabschnitten den logischen Handlungsverlauf außer Kraft. Während der 1857er Rapunzel-Bogen in seinem Bildaufbau ohnehin intuitiv verläuft, verfolgt der 1856er Bogen (Münchener Bilderbogen Nr. 193: Der Froschkönig nach Grimm.) noch eine konventionelle Struktur. Das Motiv des Wandreliefs müsste in letzterem an den Anfang des Bogens gesetzt werden (vor den Brunnen); im Bogen befindet er sich über dem vorletzten Bildabschnitt (der letzte Bildabschnitt zeigt das nun verheiratete Paar in einer Kutsche davonfahren). Panelgruppen sind nicht vorhanden, Narrationsgruppen finden sich in folgenden Bereichen: Die Prinzessin verliert ihren goldenen Ball, der Frosch bietet seine Hilfe an, wenn sie ihm einen Wunsch erfüllt (Gruppe 1), der Frosch beharrt auf die Einlösung des Versprechens, die Prinzessin weigert sich, man diniert miteinander (Gruppe 2), der Fluch wird gebrochen, der Frosch nimmt die Form eines Prinzen an (Gruppe 3) und die Protagonisten heiraten (Gruppe 4).
Die verwendete Induktionmethoden des Bogens sind 3x Von Gegenstand zu Gegenstand, 2x Von Szene zu Szene (Frosch verwandelt sich in Prinzen – der Zusammenhang wird nicht anhand der Bilder selbst deutlich; Prinzessin und Prinz verlassen das Schloss.) Der Bildmittelpunkt entspricht dem Fokus und zeigt den Frosch beim Dinner mit der Königsfamilie innerhalb des fokussierten Schlosses. Die Illustration verwendet im Hauptpanel den Establishing Shot, die Subpanels verwenden die Perspektive Auf Augenhöhe und befindet sich innerhalb der McCloud-Realismusskala im Bereich 44, 60 – 64 sowie 81 – 85.
Eine weitere Bearbeitung des Froschkönigs fertigte der Dresdener V. Erler an. Der Neue Magdeburger Bilderbogen Nr. 610 (um 1905) gleicht seinem Münchener Pendant in vielerlei Hinsicht. Zu den offensichtlichsten Parallelen zählt die Seitenarchitektur, denn beide Bogen verwenden eine Metapanelstruktur, wenngleich Erlers Bogen sich in zwei Teilbereichen von ihr löst. Sowohl der Titel als auch der Verweis auf die Brüder Grimm wurden auch hier in Form einer Schriftrolle eingefügt – anders als im zuvor besprochenen Bogen gehört sie dennoch nicht zur Bildrealität, denn sie stellt keine steinerne Verzierung dar und auch sonst findet sich kein Hinweis auf einen logisch zu begründenden Platz in der Bildrealität. Zentrales Element beider Bogen verkörpert ein gemeinsames Dinner von Frosch und Königsfamilie. Auch hier sitzt der König standesgemäß am Kopfende – ob ihm, wie bei Speckter, der Narr gegenübersitzt, kann nicht geklärt werden. An seiner Seite befinden sich die Tochter und der Froschkönig. In beiden Bildern trägt der Frosch ein Lätzchen und benutzt eine Gabel mit seiner rechten Hand. Auf illustratorischer Ebene gleicht sich noch ein weiterer Bildabschnitt (bei Speckter findet er sich im obersten Fenster, bei Erler im unteren rechten Bereich des Schlosses). Weitere Parallelen lassen sich nicht ausmachen.
Anders als der Münchener Bogen wird der Neue Magdeburger Bilderbogen nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten und von links nach rechts – also (von ein paar Unregelmäßigkeiten abgesehen) der Leserichtung entsprechend, rezipiert. Man darf davon ausgehen, dass die Rezeption von Bildergeschichten sich zwischen 1856 und 1905 veränderte. Diese Änderung führt zu einem Problem, das Erler ungeschickt löst, indem er zwei Subpanels einfügt, die neben dem Turm des Schlosses platziert die Königstochter beim Spiel mit ihrem goldenen Ball und der Verzweiflung nach dessen Verlust zeigt. Allerlei Farne und Gestrüpp, welches die Panelrahmen überschreitet und auch das Schloss bedeckt, zeugen von dieser künstlerischen Unentschlossenheit. Ebenfalls ungünstig gestalten sich die letzten drei Szenen: Anders als in Speckters Bogen ziehen Froschkönig und Königstochter nicht aus, sondern heiraten im Schlosse des Brautvaters. Die Hochzeitsszene findet sich zwischen den Schlafgemächern der Prinzessin und stört die innerbildliche Logik. Ihr Schlafgemach befindet sich demnach sowohl links, als auch rechts – die rechte Variante spiegelt überdies exakt sein linkes Vorbild. Diese lokale Konfusion wird im begleitenden Text aufgelöst: „Am anderen Tage wurde das Paar getraut, und in einem goldenen Wagen zum neuen Königsschloß abgeholt, wo Sie noch lange glücklich und segensreich regierten.“[3] – es gelingt demnach nicht, mittels Bildaufbau auf andere Räumlichkeiten zu verweisen, denn es scheint, als befände sich das frisch vermählte Paar immer noch im Schloss des Brautvaters.
Zwei Einfälle Erlers heben seinen Bogen dennoch von Speckters Version ab. Sowohl die Dinner- als auch die Hochzeitsszene werden perspektivisch in Richtung des Rezipienten erweitert: Ein Diener (bzw. drei Musikanten) treten aus dem Metapanel hervor und deuten einen Raum an, der über die Zweidimensionalität hinausreicht.[4]
Panelgruppen finden sich hier nicht, folgende Narrationsgruppen treten auf: Gruppe 1 umfasst die ersten beiden Subpanels (Prinzessin spielt mit goldener Kugel und verliert diese), Gruppe 2 das dritte bis fünfte Subpanel (der Frosch hüpft die Treppe empor, ein Wachmann betrachtet das Umland, man diniert miteinander), Gruppe 3 umfasst Subpanel 6 und 7 (Prinzessin und Frosch teilen das Bett, der Prinz wird erlöst) und Gruppe 4 zeigt die Hochzeit der beiden Protagonisten in Subpanel 8. Folgende Induktionsmethoden finden Verwendung: (1) → (2) Von Gegenstand zu Gegenstand, (2) → (3) Von Szene zu Szene, (3) → (Hauptpanel des Bogens) Von Gegenstand zu Gegenstand, (Hauptpanel des Bogens) → (4) Von Szene zu Szene, (4) → (5) Von Szene zu Szene, (5) → (6) Von Gegenstand zu Gegenstand, (6) → (7) Von Szene zu Szene. Auf der McCloud-Realismusskala befinden sich die Illustrationen im Bereich 69 – 71, 83 – 85 sowie 92 – 94, das Text-Bild-Verhältnis gestaltet sich textlastig.
Analysetabelle anzeigen …Neue Magdeburger Bilderbogen Nr. 610: Der Froschkönig. | |
Subpanel 1 | Bildinhalt (B): Prinzessin spielt vor dem Schloss und neben einem Brunnen mit ihrem goldenen Ball.
Bildmittelpunkt (BM): Wiese. Fokus (F): Ball & Prinzessin. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Subpanel 2 | B: Prinzessin sitzt auf Brunnenkante und weint, der Frosch hockt ihr gegenüber.
BM: Wiese. F: Prinzessin. P: Augenhöhe. |
Subpanel 3 | B: Der Frosch springt eine Treppe empor.
BM: Mauer. F: Frosch. P: Augenhöhe. |
Hauptpanel des Bogens. | B: Die königliche Familie diniert, ein Diener trägt Speisen davon, sie befinden sich in einem Schloss.
BM: Königliche Familie und Frosch beim Dinner F: Diener mit Tablett. P: Establishing Shot. |
Panel 4 | B: Eine Wache steht auf einer Treppe und beobachtet die Umgebung.
BM: Mauer. F: Wache. P: Augenhöhe. |
Subpanel 5 | B: Die Prinzessin sitzt im Bett, der Frosch neben demselbigen.
BM: Bett. F: Frosch. P: Augenhöhe. |
Subpanel 6 | B: Das Paar heiratet.
BM: Prinz und Prinzessin. F: Prinz und Prinzessin. P: Augenhöhe. |
Subpanel 7 | B: Der Frosch ist nun ein Prinz; er umarmt die Prinzessin.
BM: Prinz und Prinzessin. F: Prinz und Prinzessin. P: Augenhöhe. |
Belege:
[1] Im unteren rechten Teil des Bogens findet sich ein Stein mit Angaben über den Zeichner (Otto Speckter), das Veröffentlichungsjahr (1856) und den Entstehungsort (Hamburg).
[2] Vgl. Speckter, Otto: Der Froschkönig nach Grimm. Korpus 15. und Grimm, Jacob und Wilhelm: Der Froschkönig. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 1. S. 32.
[3] Neue Magdeburger Bilderbogen Nr. 610: Der Froschkönig.
[4] Figuren, die aus ihrem Panel / Metapanel herauszutreten scheinen, finden sich in Comics selten. Oft treten sie lediglich mit einem Körperteil oder Kleidungsstück über die Grenzen ihres Panels heraus, wie etwa in Guido Crepax‘ Valentina: Die Unterirdischen (Originalausgabe 1965/66, die erweiterte Buchausgabe erschien 1968) oder bei Bruno Brazil: Die teuflischen Augen von William Vance (William Van Cutsem) von 1969. Dennoch wird diese Technik auch hier selten verwendet und beschränkt sich auf wenige Panels. Der Amerikaner Adam Hughes hingegen verwendet sie ausgerechnet im grafisch im Vergleich zu Valentina bisher wenig experimtierfreudigen Comicklassiker Betty & Veronica auffallend häufig: Figuren treten auf 69 Seiten siebzehnmal aus ihren Panels heraus, d. h. sie verlassen mit einem Teil ihres Körpers das ihnen zugeteilte Panel, sind aber weiterhin einem Bild zuzuordnen. Figuren, die gleich mehrere Panels verdecken und nicht ohne weiteres einem Bereich zugeordnet werden können, finden sich fünfmal.
(Vgl. Crepax, Guido: Die Unterirdischen. In: ders. Valentina Underground. Berlin 2016.; Vance, William u. Greg: Die teuflischen Augen. In: dies.: Bruno Brazil. Gesamtausgabe Bd. 1. Köln 2013. S. 138. Und: Hughes, Adam: Betty & Veronica. Mamaroneck 2017.)