Bogen, die auf den ersten Blick einem anderen Strukturtypus zugeordnet werden, sind keine Seltenheit. Besonders zwischen den Strukturen Einzelbild und Metapanel, aber auch Mehrere Einzelbilder und Panelstruktur kann es schnell zu Verwechselungen kommen. Zu diesen Bogen zählt Der Rattenfänger von Hameln, der dem ersten Anschein nach aus mehreren Einzelbildern besteht. Ein Hauptmotiv – der Rattenfänger und eine Kinderschar – wird von einem Astgeflecht umrahmt. Im oberen Bereich (links und rechts) sind zwei weitere Bilder der Geschichte positioniert und auch im unteren Teil des Bogens lässt sich das Bild eines kleinen Kindes erkennen und ist deutlich vom Hauptmotiv abgesetzt. Probleme bereiten indes die zusätzlichen Motive: oben links findet sich eine Illustration des Rattenfängers; er spricht mit zwei Einwohnern Hamelns, rechts sieht man ihn bereits Flöte spielen. Zwischen den beiden abgesetzten Motiven wurde mittig ein Käfig platziert, um den sich Ratten tummeln. Zwar gehören die Motive zusammen, jedoch könnte man argumentieren, dass es sich hier um die Bogenstruktur Mehrere Einzelbilder handelt, wobei der Fokus deutlich auf dem Hauptmotiv liegt, denn es zeigt eine zentrale Szene aus der Sage: Der Rattenfänger verlässt die Stadt Hameln, ihm folgen die Kinder. Die Randillustrationen – insbesondere das kleine Kind im unteren Bildbereich – wirken wie verzierende Elemente, welche mit dem Hauptmotiv nur vage in Verbindung stehen. Diese Verbindung wird jedoch durch den beigefügten Text offenbart. Er befindet sich unter dem Bild, das Astgeflecht endet vor ihm:
1.
Du Hameln in der guten Stadt Viel Ratten es gegeben hat, Viel große und viel kleine. Da half denn keine Fall‘ von Draht, D’rum tät der weise Magistrat Sich machen auf die Beine. |
4.
Da er erwartet Lob und Geld, So sieht er sich nun arg geprellt – Belangt vom Magistrate Für unbefugte Zauberei! Er ballt die Faust und ruft dabei: „Bereu’n sollt Ihr’s zu Spate!“ |
2.
Und suchte in dem deutschen Reich Nach einem Rattenfänger gleich, Bis daß er einen hatte. Und war der Bursch‘ auch justement Nicht ganz geheuer, nun – am End‘ – Er fing doch jede Ratte. |
5.
Das Rathaus d’rauf verließ er [.]rack Zog’s Hexenpfeiflein aus dem Sack Und pfiff eins durch die Straßen. Die Kinder folgten groß und klein Mit Pupp‘ und Rassel hintendrein, So lockte sie sein Blasen. |
3.
Sein Pfeiflein pfiff den Hexentanz, Das hört der ganze Rattenschwanz In Keller, Küch‘ und Kammer, Im Tanze folgt ihm’s Rattenvieh, Da führt er in die Weser sie – Und aus war aller Jammer. |
6.
Sie tanzten bis zum Berg hinein, Der schloß sie dann auf ewig ein. So war’s daß er sich rächte. Ein einzig Büblein kam zu spät, Das hat dann weinend umgedreht, Das die Kunde brächte.[1] |
Mittels des Textes offenbart sich die Sequenzialität des Bildes und es zeigt sich, dass die Panelverteilung nicht der westlichen Leserichtung entspricht. Während die Strophen eins bis einschließlich drei nicht illustriert wurden, der Text folglich die Vorgeschichte erzählt, findet sich im Bild oben links die erste Strophenillustration der Strophe vier (2). Strophe fünf folgt im rechten oberen Bildabschnitt (3). Besonders interessant erscheint die Aufteilung der sechsten Strophe: Ihr wurde nicht nur das Hauptmotiv des Bogens gewidmet – die Kinder werden vom Rattenfänger entführt – sondern auch ein Bild, das zwischen den Strophen platziert wurde: Das zu spät kommende Büblein blickt dem Zug hinterher. Die verwendeten Induktionsmetoden lauten: (1) → (2) Von Gegenstand zu Gegenstand, (2) → (3) Von Szene zu Szene, (3) → (4) Von Szene zu Szene, (4) → (5) Von Gegenstand zu Gegenstand.
Die Zuordnung des Bogens zum Metapanel Typ 2 wird hier offensichtlich, denn obwohl es sich keinesfalls um ein ideales Metapanel wie etwa Rinaldo Rinaldini oder Der Froschkönig handelt, weist die Struktur von Der Rattenfänger von Hameln jene Strukturmerkmale auf: Eine Geschichte wird, wenn auch äußerst rudimentär, sequenziell erzählt. Das Bild tritt trotz einer Rahmenstruktur hervor und die Sequenzialität des Bogens ist untrennbar mit dem beistehenden Text verbunden, was zu einem textlastigen Text-Bild-Verhältnis führt. Jedoch leitet dieser Text den Rezipienten nicht nur durch das Bild, sondern informiert auch über eine Vorgeschichte, die lediglich mit Hilfe des Rattenkäfigs in der oberen Bildmitte angedeutet wird.
Gesondert muss die scheinbare Panelstruktur aus Ästen hervorgehoben werden, denn sie trennt das Bild nur teilweise in verschiedene Panels. Im oberen Bereich des Bildes separiert sie zwar zwei Bilder vom Rest des Bogens, jedoch umrahmt sie die obere (Rattenkäfig), sowie die untere Mitte (Büblein) nicht. Der kleine Junge findet sich in einem Bereich, der von Gestrüpp abgetrennt an eine unterirdische Höhle erinnert, zu dessen Öffnung er blickt. Dass es sich dabei um einen Platz im Dorf handeln muss, offenbart der beigefügte Text (sechste Strophe).
Panelgruppen lassen sich nicht bestimmen, Narrationsgruppen hingegen sind vorhanden. Gruppe 1 bildet Subpanel 1 (Ratten), Gruppe 2 umfasst Subpanel 2 bis 3 (der Rattenfänger wird beauftragt und vertreibt die Schädlinge aus der Stadt) und Gruppe 3 befindet sich im Subpanelbereich 4 und 5 (der Rattenfänger rächt sich an den Stadtbewohnern und entführt die Kinder).
Auf der McCloud-Realismusskala belegt der Stil des Bogens den Bereich 60 – 64, 82 – 85 und 44. Das Metapanel entspricht einem Establishing Shot, die Perspektiven der Subpanels sind der Analysetabelle zu entnehmen.
Analysetabelle anzeigen …Der Rattenfänger von Hameln. |
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Subpanel 1 | Bildmittelpunkt (BM): Ratten.
Fokus (F): Ratten. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Subpanel 2 | BM: Stadtverordneter.
F: Personengruppe (mit Stadtverordnetem). P: Augenhöhe. |
Subpanel 3 | BM: Rattenfänger.
F: Rattenfänger. P: Augenhöhe. |
Subpanel 4 | BM: Busch.
F: Rattenfänger und Kinder. P: Augenhöhe. |
Subpanel 5 | BM: Kind.
F: Kind. P: Augenhöhe. |
Belege:
[1] Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 100: Der Rattenfänger von Hameln.