Eine Speisekarte, ein Bilderbogenmotiv, welches laut Peter W. Hübner bereits 1850 von Julius Hübner entworfen, aber erst zwanzig Jahre später in den Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt. publiziert wurde,[1] weist eine bemerkenswerte Struktur auf. Sechs, auf Bogenbreite ausgedehnt und mit einer dünnen schwarzen Linie begrenzte Panels, illustrieren einen Text der zwischen bzw. unter den Bildern steht, sich demnach im Gutter / Rinnstein befindet und von einem Festmahl berichtet. Nach und nach tragen kleine, an Renaissanceengel erinnernde Diener, jene Speisen herbei, auf die der Text referenziert.
Anders als bei kleineren Panels entsteht bei Bildern dieser Art ein anderer zeitlicher Eindruck, der an die Möglichkeiten von Bildrollen erinnert,[2] wobei die Räumlichkeit immer noch hinter der Zeitlichkeit zurücktritt. Der Blick wird in ihnen der westlichen Leserichtung entsprechend, von links nach rechts gelenkt und es ist explizit nicht möglich, den Inhalt des gesamten Panels auf einen Blick zu erfassen. Anders als in Metapanels erfolgt die Rezeption jedoch hauptsächlich horizontal – die vertikale Erfassung gleicht der normalen Panelstruktur und lässt sich auf den ersten Blick erfassen.[3]
Analysetabelle anzeigen …Deutscher Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 186: Eine Speisekarte. |
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Panel 1 | Text (T): „Mit Pauken und Trompeten werdet ihr zum Mittagbrod gebeten! Die Dienerschaft macht Reverenz; es kommt die Suppe an – – Poseidons Reich beginnt den Reigen:“
Bild (B): Mehrere wenig bekleidete Diener sind zu erkennen. Sie erinnern an Renaissanceengel. Am Anfang des Bildes steht ein Kerzenleuchter mit einem Schild, auf dem „1850“ zu lesen ist. Die Kerze wird von einem Diener entzündet. Es folgen Musikanten (Pauken und Trompeten). Ein etwas bedeckterer Diener hält ein Schild in der Hand, auf dem „Einladung zum Mittagmahl“ steht. Mehrere Diener tragen eine Suppenterrine mit „Turtle-Suppe“ auf einer Sänfte herbei. Der Zug wird von zwei Dienern mit Keschern, womöglich Fischern, abgeschossen. Am Ende des Bildes steht eine Feuerschale. Fokus (F): Die Musiker sowie die Suppenterrine. Bildmittelpunkt (BM): Kopf eines sich verbeugenden Dieners. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 2 | T: „Mit Kablian wird angefangen, – – – – mit Hummer und mit Austern wird geschlossen, – – – – und frisch Madeira nachgegossen“
B: Erneut beginnt der Zug mit einem Kerzenleuchter. Mehrere Diener tragen einen überdimensionierten Kablian, an einem weiteren Kerzenleuchter steht zu lesen: „Kablian“. Zwei Diener tragen einen ebenfalls überdimensionierten Hummer herbei. An einem Fühler hängt ein Schild mit der Aufschrift „Austern“. Zwei weitere Diener befördern ein Tablett mit Austern, ein Dienerpaar schließt den Zug mit Spirituosen ab, ein Schild weist auf „Madeira“ hin. Zuletzt ist ein Kerzenleuchter zu erkennen. F: Kablian und Hummer. BM: Bein des Hummers. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 3 | T: „Ein mächt’ger Held erscheint, zu deutsch „Roast-Beef“ genannt, – – – ihm folgt als leichte Truppen Vogelwild, und die Fanfare kündet“
B: Ein Kerzenleuchter steht am Anfang des Bildes. Zwei Diener tragen ein Stierkostüm, Rinderbraten wird auf einer Sänfte befördert, der mit dem Hinweis auf die Speise versehen wurde. Dahinter ein Jagdhund, der zwei Jäger, die Vogelwild tragen, beobachten. Es folgen zwei Hunde und drei musizierende Jäger. Ein Kerzenleuchter beschließt den Zug. F: Rinderbraten. BM: Rechter Rand der Servierplatte. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 4 | T: „Des Waldes stolzen König an und seinen Sieger im Triumph. – – – Ihm folgt das mächt’ge Fass voll Rheinwein, seiner würdig.“
B: Mehrere Diener ziehen einen Wagen, auf dem ein Hirsch liegt und auf dessen Hals sich ein Diener präsentiert. Ein Fass wird herbeigezogen. F: Diener vor Hirsch / Fass. BM: Rechter Teil des Hirschs. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 5 | T: „Das Reich der Süssigkeit hebt an, Riso, Polenta und der Plumpudding, dann des Conditors Werk, des Zucker-Architekten. Ein tanzend Gärtnerpaar geleitet der“
B: Ein Koch läuft vorweg, es folgen zwei Diener mit undefinierbaren Speisen. Der Plumpudding wird auf einer Sänfte befördert, eine Zuckerarchitektur / Torte herbeigetragen. Zwei Diener mit Gartenwerkzeugen schließen den Zug ab. F: Zuckerarchitektur / Torte. BM: Leer / Wand. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 6 | T: „Früchte Reih’n, von Ananas zu der gewichtigen Melone und zur Riesentraube. Champagner mit der Freude leichtem Perlenschaume und ernster Kaffee schliesst das Mal und an der Thür empfängt die Dienerschaft den Dank.“
B: Es wird Obst herbeigetragen: Eine Ananas, Äpfel, Trauben. Weitere Lakaien servieren Champagner. Ein schwarzer Diener bringt Kaffee; vier weitere schließen den Zug ab. F: Riesentraube / Obstkorb (Ananas). BM: Kerzenleuchter. P: Augenhöhe. |
Die tabellarische Analyse zeigt: Panel- und Narrationsgruppen sind im Bilderbogen nicht vorhanden, denn alle sechs Panels gehören zusammen. Die einzig verwendete Induktionsmethode Von Gegenstand zu Gegenstand, welche u. a. für wechselnde Gegenstände in einer einheitlichen Szene verwendet wird, stützt diesen Eindruck.[4] Ein Übergang Von Handlung zu Handlung schließt sich aus, denn die Veränderungen in den Panels sind groß: Verschiedene kleinwüchsige Diener bringen diverse Gegenstände und Speisen mit. Die Einheit der Szene lässt sich durch die beiden Kerzenleuchter am rechten und linken Rand (Panel 1 – 3) bestimmen. Durch das Fehlen dieser beiden Leuchtmittel in Panel 4 könnte man auf einen Szenenwechsel schließen, Panel 5 und 6 zeigen jedoch an, dass sie nur von Personen verdeckt werden.
Perspektivisch verharrt der Deutschen Bilderbogen auf Auf Augenhöhe, was den bereits erwähnten reliefartigen Charakter der Illustration stützt – lediglich der schwarze Diener im rechten Teil des sechsten Panels bricht – ob der anderen Hautfarbe – mit dieser Illusion. Da in jedem Panel der komplette Handlungsort abgebildet wird, könnte als Perspektive auch ein Establishing Shot vermutet werden – jedoch wird in keinem der Panels deutlich – anders als z. B. im Neuen Magdeburger Bilderbogen Nr. 613, Blaubart, Panel 9 – wo genau die Handlung spielt und disqualifiziert sich somit. Trotz des breiten Charakters der einzelnen Panels fällt der deutlich zu bestimmende Fokus auf, denn in jedem Panel stechen ein oder zwei Elemente deutlich hervor.
Der Zeichenstil des Bogens lässt den Eindruck eines Reliefs mit realistischem Charakter entstehen, d. h. Figuren und Gegenstände wirken wie in Stein gemeißelte Renaissancedarstellungen und befinden sich in der McCloud Realismusskala im Bereich 81 bis 85. Im Gegensatz zur realistischen Darstellung steht die überdimensionierte Abbildung von Fischen, Töpfen und Besteck. So ist z. B. der Kablian ebenso groß wie der Hirsch und das Rind.
Bild und Text doppeln sich, Was beschrieben wird, findet sich auch im Bild. Hätte Hübner auf den Text verzichtet – die Bilder ergäben dennoch Sinn und könnten für sich selbst stehen. Folglich kommt dem Text die Bestimmung der Leserichtung zu. Anstatt das Bild hingegen mit dem Ende des Zuges beginnen zu lassen, folgt der Rezipient auch hier dem Text und es treten zuerst jene Elemente im Bild auf, die textlich referenziert werden. Auf diese Art wird jedes Detail des Bogens genau und am richtigen Punkt des Bildes beschrieben. Um die richtigen Abstände zu wahren, fügte Hübner mehrere Geviertstriche als Platzhalter ein (besonders deutlich in Panel 2). Einzig Panel 6 bricht mit dieser Darstellungsweise; Text und Bild ergänzen sich zwar dennoch, wenn auch nicht passgenau. Ein Zeilenumbruch weist auf eine weniger gut durchdachte Bild- / Textverbindung hin.
Belege:
[1] Vgl. Hübner, Peter W.: Eine Speisekarte. https://juliushuebner.wordpress.com/2014/10/08/eine-speisekarte/ [konsultiert am 19.05.2017]. Auf das Jahr 1850 verweist auch der Bilderbogen selbst: In Panel 1 prangt das Jahr auf einem Schild, welches am linken Kerzenleuchter befestigt wurde (vgl. Tabelle).
[2] In Bildrollen, wie etwa Ludwig Emil Grimms Kurze Lebensbeschreibung einer merkwürdigen und liebevollen Sau, geboren in Ihringshausen im Jahr 1849 (Vgl. hierzu: Grimm, Ludwig Emil: Kurze Lebensbeschreibung einer merkwürdigen und liebevollen Sau, geboren in Ihringshausen im Jahr 1849. Hrsg. von Julian Auringer und Antonia Stolz. Berlin 2017.) verschwindet ein Teil der Zeichnung während der Rezeption in einer linken Rolle, während die rechte Seite noch weiter aufgewickelt werden muss. Somit wird immer nur der Bereich sichtbar, der entrollt vor dem Rezipienten liegt. Soll eine Szene erneut betrachtet werden, muss der Teil erst neu entrollt werden – eine Art der Rezeption, die kinematografische Züge trägt.
[3] Im Gegensatz zum Metapanel. Hier muss der Rezipient das Panel horizontal und vertikal erkunden, um den kompletten Bildinhalt zu erfassen.
[4] Vgl. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S.79.