(Zur Metapanelvariante hier entlang)
Theodor Hosemann, der bereits 1847 in mehreren Bildern Schneewittchen illustrierte,[1] widmete sich 1868[2] erneut dem Märchen um das schöne schwarzhaarige Mädchen. Der Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt setzt, wie auch im Metapanelpendant von 1890, die Glassargszene ins Zentrum des Bogens. Die Leserichtung fällt für eine Panelstruktur experimentell aus und durchbricht das heute übliche Schema. Um dem Rezipienten die Orientierung zu erleichtern, wurden die einzelnen Panels mit Nummern versehen; ein sehr umfangreicher Begleittext findet sich unter den einzelnen Bildern. Er orientiert sich am Originaltext, wurde jedoch neu verfasst und verzichtet auf diverse Details.
Diese neue, bruchstückhafte und auf einzelne Szenen ausgerichtete Erzählung beeinflusst die Induktion, denn der Rezipient wäre ohne den Begleittext / weiteres Vorwissen teilweise nicht fähig, die Bilder sinnvoll zu verbinden. Hinzu kommen rahmenlose Panels, die sich selbst begrenzen. Der Text befindet sich direkt unter ihnen und fügt den Einzelszenen Inhalt hinzu, der sich nicht aus den realistischen Illustrationen herleiten lässt (auf der McCloud-Realismusskala befinden sie sich im Bereich 60 bis 64 und 81 bis 84). Das Verhältnis zwischen Text und Bild fällt demnach textlastig aus. Als Folge der Textlastigkeit ergeben sich lediglich drei Narrationsgruppen. Gruppe 1 besteht aus Panel 1. Nicht etwa die Geburt Schneewittchens steht im Fokus, sondern die versuchte Ermordung durch den Jäger. Gruppe 2 (Panel 2 bis 6) beginnt mit einem Blick ins Haus der sieben Zwerge. Soeben von der Arbeit heimgekommen finden sie die ersten Spuren der neuen Mitbewohnerin. Eine weitere Illustration bildet die Stiefmutter vor ihrem Zauberspiegel ab (hierbei handelt es sich um das einzige Bild, dessen Inhalt sich lediglich auf den beigefügten Text bezieht. Dieser Text wäre auch als Sprechblase denkbar). Bild vier zeigt nun wieder Schneewittchen in direkter Konfrontation mit ihrer Rivalin. Verkleidet als Krämersfrau offeriert die böse Königin der verhassten Stieftochter die todbringenden Schnürriemen. Hosemanns Illustration erscheint bemerkenswert, denn die berühmte und oft illustrierte Apfelszene wurde auf bildlicher Ebene vernachlässigt. Es folgt die Heimkehr der Zwerge und das Auffinden der erstickten Protagonistin. Weiterhin findet der Rezipient ein Bild des Glassarges. Gruppe 3 (Panel 7) präsentiert den Tauschhandel zwischen Zwergengemeinschaft und dem Prinzen.
Wie der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen ist, verläuft die graphische Erzählstruktur meist szenisch. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Übergänge (3) → (4) sowie (4) → (5), denn sie setzen sich von diesem Schema ab. Während die zeitlichen Sprünge in den übrigen Illustrationen recht umfangreich ausfallen,[3] wird hier ein kürzerer zeitlicher Rahmen geboten. Die Königin befragt ihren Spiegel, verkleidet sich und versucht Schneewittchen zu töten. Zwar ändert sich auch hier der Ort, der Zeitsprung fällt dennoch deutlich kürzer aus und der Fokus liegt auf der Stiefmutter. Ähnlich verhält es sich mit dem Übergang (4) → (5). Während sich zuvor temporal wenig, lokal aber viel änderte, bleibt diese Veränderung nun aus, vorausgesetzt, es werden tatsächlich die ersten Folgen des ersten Mordversuchs abgebildet. Leider kann der Zeichnung nicht entnommen werden, ob Schneewittchen erdrosselt, ein Kamm sie vergiftet oder der berühmte Apfel sie sowohl vergiftete als auch erdrosselte. Da weder Frucht noch Kamm sichtbar sind, darf von einem Schnürriemen ausgegangen werden, was auf einen kurzen temporalen Verlauf hinweist und eine gegenständliche Induktionsmethode nahelegt. Deutlich umfassender indes die Übergänge (5) → (6) und (6) → (7), denn es erfolgen zwei weitere Attentate (große zeitliche Veränderung), die Beerdigung (Ortswechsel) und die Ankunft des zukünftigen Ehemannes („Nun lag Schneewittchen lange lange Zeit in dem Sarg und sah aus, als wenn es schliefe […]. Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald gerieth […][4]).
Wieder bietet sich ein Vergleich zum Metapanelbogen Sneewittchen an, denn der Münchener Bilderbogen verwendet eine rudimentäre Panelstruktur. Beide Bogen illustrieren größtenteils identische Ereignisse des Märchens: Der Jäger soll Schneewittchen ermorden, lässt sie aber entkommen. Die Stiefmutter befragt ihren Spiegel, verkleidet sich als Krämerin, Schneewittchen wird bestattet und der Königssohn eilt herbei.
Der Deutsche Bilderbogen Nr. 43 fügt weitere Szenen hinzu: Die Zwerge untersuchen ihr Geschirr und ein weiteres Panel zeigt das vergiftete Schneewittchen im Zwergenheim. Im Münchener Bilderbogen Nr. 1000 wird die Geburt angedeutet (Bildabschnitt 1: Ein Storch bringt das Kind zu seinen königlichen Eltern), Schneewittchen entdeckt das Zwergenheim, man sieht sie aus ihrem Todesschlaf erwachen (zwei Mondphasenbilder deuten überdies die Länge des Todesschalfes an) und auch das Schicksal der bösen Königin wird erwähnt. Eine Szene hingegen präsentiert sich jedoch in beiden Bogen unterschiedlich: Während die Stiefmutter im Deutschen Bilderbogen Nr. 43 Schnürriemen überreicht, schenkt sie Schneewittchen im Münchener Bilderbogen Nr. 1000 einen todbringenden Apfel. Wie auch in anderen Literaturadaptionen offenbaren sich Kernpunkte der Geschichte, deren Illustration immer wieder erfolgt. Einige Panels bauen direkt aufeinander auf, bilden Panelgruppen (im Deutschen Bilderbogen: Panel 3 und 4; 5 bis 7 – im Münchener Bilderbogen 4, 5; 6 bis 9), andere fügen einzelne Szenen hinzu. Im Zentrum beider Bogen steht – unabhängig von einer logischen Panelabfolge – die Glassargszene. Ihr scheint demnach eine besondere Bedeutung zuzukommen; Im Münchener Bilderbogen erscheint sie übermächtig zu sein und drängt die übrige Geschichte wortwörtlich an den Rand.
Analysetabelle anzeigen …Deutscher Bilderbogen Nr. 43: Sneewittchen (nach Grimm). |
Münchener Bilderbogen Nr. 1000: Sneewittchen. | |
(Kein entsprechendes Panel) | (Panel 1)
B: Storch bringt Schneewittchen zu ihrer Mutter. |
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Indmeth. | (1) → (2*) Von Szene zu Szene
(2*) → (3) Von Szene zu Szene |
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Panel 1 | Text (T): Mutter wünscht sich Kind, stirbt, Vater heiratet eine bösartige Frau, sie befragt ihren Zauberspiegel, Schneewittchen wird 7 Jahre alt und wird schöner als ihre Stiefmutter, letztere wird neidisch und befiehlt dem Jäger, Schneewittchen zu ermorden. Dieser schenkt ihr aus Mitleid das Leben.
Bild (B): Schneewittchen kniet abwehrend vor Jäger, dieser will seinen Dolch zücken. Man befindet sich im Wald. Fokus (F): Schneewittchen. Bildmittelpunkt (BM): Leer (Stein im Hintergrund). Perspektive (P): Augenhöhe. |
(Panel 3)
B: Schneewittchen knie vor Jäger, der sie ermorden will. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene | (3) → (4) Von Szene zu Szene |
Panel 2 | T: Schneewittchen findet Haus im Wald. Sie isst und schläft. Hausherren kehren heim, finden sie und am nächsten Morgen handelt man Konditionen aus, zu denen das Mädchen bleiben darf.
B: Zwergenheim. 7 Zwerge inspizieren ihr Besteck, das Geschirr etc. F: Zwerg mit Gabel. BM: Zwerg mit Teller, der die Gabel des Gabelzwergs betrachtet. P: Augenhöhe. |
(Panel 4)
B: Schneewittchen findet das Zwergenheim. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene | |
Panel 3 | T: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier […]“.
B: Königin vor Zauberspiegel, schrickt zurück. F: Königin. BM: Königin. P: Augenhöhe. |
(Panel 2*)
B: Königin vor Zauberspiegel.
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Indmeth. | Von Szene zu Szene | (4) → (5) Von Szene zu Szene |
Panel 4 | T: Königin verkleidet sich, bietet Schnürriemen an und tötet Schneewittchen.
B: Königin reicht Schneewittchen, die aus dem Fenster des Zwergenheims schaut, Schnürriemen. F: Schnürriemen. BM: Arm/Hand der Königin mit Schnürriemen. P: Augenhöhe. |
(Panel 5)
B: Königin, als Krämerin verkleidet, bringt Apfel zu Schneewittchen. Letztere schaut aus dem Fenster. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand | (5) → (B1) Von Szene zu Szene |
Panel 5 | T: Zwerge kehren heim, finden Schneewittchen, befreien sie von Schnürriemen, warnen sie vor Königin, diese erfährt vom Überleben ihrer Konkurrentin, verkauft ihr einen vergifteten Kamm, die Zwerge retten sie erneut, Königin schenkt ihr einen Apfel, Schneewittchen stirbt erneut.
B: Zwerge finden das zeitweise verstorbene Schneewittchen. F: Schneewittchen. BM: Zwerg mit Kerze, der hinter Schneewittchen steht. P: Augenhöhe. |
(Kein entsprechendes Panel) |
Indmeth. | Von Szene zu Szene | (B1) → (6) Von Szene zu Szene |
Panel 6 | T: Zwerge können Schneewittchen nicht wiederbeleben, weinen drei Tage lang, legen sie in einen Glassarg, tragen sie zu Spitze eines Berges, ein Zwerg wird als Wache eingeteilt, Schneewittchen liegt lange Zeit im Sarg und verwest nicht.
B: Schneewittchen liegt in Glassarg, neben ihr steht ein trauernder Zwerg mit Hellebarde. F: Schneewittchen. BM: Schneewittchens Füße. P: Augenhöhe. |
(Panel 6)
B: Schneewittchen liegt im Glassarg, wird von Zwergen, einer davon mit Hellebarde, bewacht. Der Sarg steht auf einem Felsen, der Königssohn eilt herbei. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene | (6) → (B2) Von Szene zu Szene
(B2) → (7) Von Szene zu Szene |
Panel 7 | T: Königssohn findet Schneewittchen, verhandelt mit Zwergen, darf sie schließlich mitnehmen. Beim Transport entweicht der giftige Apfel, Schneewittchen erwacht. Man heiratet, die Stiefmutter wird zu Tode gefoltert.
B: Prinz verhandelt mit Zwergen. F: Prinz. BM: Dolch/Schwert des Prinzen. P: Augenhöhe. |
(Panel 7)
B: Königssohn erweckt Schneewittchen.
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(7) → (8) Von Szene zu Szene | ||
(Panel 8)
B: Königssohn ehelicht Schneewittchen. |
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(8) → (9): Von Szene zu Szene | ||
(Panel 9)
Königin liegt am Boden, ein Rabe hält einen Strick, in dessen Schlinge sich ihr Kopf befindet. |
Belege:
[1] Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den ‚Kinder- und Hausmärchen‘ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin u. Boston 2013. S. 124.
[2] Zur Datierung vgl. Hosemann, Theodor: Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 43. Schneewittchen (nach Grimm). http://www.bildindex.de/document/obj00023872 [konsultiert am 30.05.2017].
[3] (1) → (2) Schneewittchen wird vom Jäger bedroht, es gelingt ihr zu entkommen, sie bedient sich bei den Zwergen und legt sich schlafen; die Zwerge finden Schneewittchens Spuren, dann das Mädchen selbst, man schläft eine Nacht, nach dem Erwachen vereinbart man das gemeinsame Zusammenleben; (2) → (3) die Königin befragt ihren Spiegel.
[4] Vgl. Deutscher Bilderbogen Nr. 43: Sneewittchen (nach Grimm).