Eine faule Müllerstochter weigert sich zu spinnen und wird von ihrem Vater zur Strafe geschlagen, bis sie weint. Die Königin bemerkt das Unglück der ungezogenen Tochter und stellt den Vater zur Rede. Dieser gibt aus Scham an, seine Tochter besäße die Fähigkeit, Stroh zu Gold zu spinnen und er könne nicht genügend Stroh herbeischaffen, wie seine Tochter zu spinnen verlangt. Die Königin nimmt die Müllerstochter mit auf ihr Schloss und befehligt, in drei Tagen alles Stroh zu verspinnen. Gelingt ihr dies, wird sie mit dem Prinzen vermählt, sollte sie jedoch versagen, so sei sie des Todes. Nach drei untätigen Tagen treffen drei hässliche Spinnerinnen ein, die ihre Hilfe anbieten und als Gegenleistung nur um eine Hochzeitseinladung bitten. Das Stroh wird von ihnen versponnen, die Müllerstochter heiratet und als die drei Spinnerinnen auf ihre Hässlichkeit angesprochen werden, geben sie an, dass dies Folge der Spinnerei sei. Fortan bleibt der Müllerstochter das ungeliebte Handwerk erspart.
Die drei Spinnerinnen stammt aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und lässt sich dort in zwei verschiedenen Varianten ausmachen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden: Während die Ausgabe dritter Hand der Handlung des Bogens inhaltlich weitestgehend gleicht, erzählt die Variante der Erstausgabe von 1812 mit dem Titel Von dem bösen Flachsspinnen die Geschichte eines Königs, der seine Frau und Töchter zum Flachsspinnen nötigt. Die Königin bittet drei hässliche Jungfrauen darum, vor dem König zu spinnen – dieser erlässt seinen Töchtern daraufhin die Arbeit.[1] In der Bilderbogenfassung wird auf den heute bekannten Text der Ausgabe letzter Hand zurückgegriffen,[2] man ändert aber ein wichtiges Detail: Anstatt einer prügelnden Mutter wird von einem prügelnden Vater gesprochen und die Szene findet sich auch im Bogen selbst wieder. Der Zeichner, Hans Speckter, Sohn des bereits mehrfach analysierten Zeichners Otto (Der Froschkönig nach Grimm; Rapunzel nach Grimm von Otto Speckter 1857) führt die Tradition des Vaters fort und platziert den grausamen Akt der Kindesmisshandlung in Bildabschnitt (1). Dem Rezipienten wird eine hölzerne Schnitzerei präsentiert, die einen prügelnden Vater, seine wehklagende Tochter sowie die Königin zeigt. Wie auch in Rapunzel nach Grimm von Otto Speckter 1857 und Der Froschkönig nach Grimm wird ein unaussprechliches Element des Märchens als Teil der Bildrealität präsentiert, die auch von den Protagonisten selbst wahrgenommen werden könnte. Waren es bei Rapunzel der Kinderhandel und beim Froschkönig die Verzauberung des Prinzen, wird erneut ein Gewaltakt abgebildet, der sich wie bei ersterem gegen das eigene Kind wendet und als weiteres Indiz für ein solches Vorgehen – zumindest innerhalb der Familie Speckter – gewertet werden darf. Gleichzeitig verkörpert das toten Objekt den ersten Handlungsabschnitt des Bildes, der gleichzeitig Teil des Rahmen von Abschnitt (2) ist. Inzwischen lebt die Protagonistin nicht mehr bei ihrem gewalttätigen Vater, sondern bei einer weitaus gewaltätigeren Königin, die das Mädchen nicht etwa prügelt, sondern sie bei Nichtgelingen töten würde. Bildsegment (3) präsentiert eine interessante Variante der Bildrealität: Während der Raum in (1) noch sehr klein wirkt, erfährt er in (3) eine Erweiterung. Aufgrund der sich in beiden Raumteilen befindlichen Spindeln kann man vermuten, es handele sich in beiden Abschnitten um den selben Teil des Raumes aus unterschiedlicher Perspektive, der fehlende Strohhaufen hingegen verweist auf eine räumliche Erweiterung und auch die Hand der Protagonistin, die nun einen Balken des Raumes berührt, bestätigt diesen Eindruck. Darüberhinaus werden nun auch die drei Spinnerinnen abgebildet (was wiederum mit dem Fehlen des Strohs in Verbindung stehen könnte). Ein weiterer Teil des Gebäudes wirft hingegen Kontinuitätsfragen auf. Subpanel (4) zeigt eine Wendeltreppe, die zu einer Tür führt. Hier erwartet das Mädchen die Hochzeitsgäste und in einer weiteren Wandverzierung findet sich neben der Justizia auch ein Hinweis auf das Entstehungsdatum des Bogens: „Anno Dom MDCCCLXIX“ (1869). Jener Gebäudteil führt aber auf wundersame Weise ins Erdgeschoss, wo die Vermählung der Protagonistin stattfindet. Dieser Bereich (5) wird durch Säulen in vier Teile separiert. Der erste Teil zeigt den Hofstaat, der zweite den Einmarsch der in (4) abgebildeten Personen, der dritte die drei Spinnerinnen und ein vierter, der sich unter der Tür von (4) befindet – lediglich ein Text separiert die Bereiche – zeigt das Volk und einige Kinder. Der Umhang einer Person im ersten Bereich ragt im zweiten über das Gebäude hinaus, eines der Kinder im vierten Bereich steht mit einem Bein außerhalb des Gebäudes, das andere auf einer Stufe. An ihrer dem Rezipienten zugewandten Seite findet sich der Vermerk: „Hans Speckter Weimar“. Der Märchentext befindet sich in zwei Textblöcken zwischen dem Obergeschoss und dem Erdgeschoss, der Hintergrund setzt sich farblich deutlich von der Bildrealität ab. Anders der Titel des Bogens: „DIE DREI SPINNERINNEN“ wurde in die Fassade des Gebäudes gemeißelt. Die Position der Subpanels entspricht der westlichen Leserichtung.
Panelgruppen lassen sich nicht ausmachen, Narrationsgruppen bilden die Subpanels (1) (Gruppe 1), (2) bis (3) (Gruppe 2) sowie (4) bis (5) (Gruppe 3). Folgende Induktionsmethoden finden Verwendung: (1) → (2) Von Szene zu Szene, (2) → (3) Von Gegenstand zu Gegenstand, (3) → (4) Von Szene zu Szene, (4) → (5) Von Gegenstand zu Gegenstand. Die beiden Gegenstandsübergänge erklären sich im ersten Fall durch die Einheit des Raumes. Laut Begleittext weinte
die arme Müllerstochter [..], und wußte sich nicht zu helfen. Am dritten Tage aber kam tripp trapp, tripp trapp, drei alte Frauen die Treppe hinauf. […] Die Müllerstochter sagte ihnen das gerne zu, und nun ging es schnurr, schnurr, schnurr, schnurr, und in kurzer Zeit war alles Stroh zu Gold gesponnen.[3]
Die beiden Subpanels lassen aber nicht erkennen, an welchem der drei Tage (2) stattfindet. Ob der Zusammengehörigkeit beider Raumteile darf angenommen werden, dass die Zeit zwischen den beiden Handlungsabschnitten kurz ausfällt. Darüberhinaus baut die Handlung aufeinander auf, es wird eine Szene / ein Gedanke illustriert und wechselnde Gegenstände / Personen lassen sich in einer einheitlichen Szene ausmachen. Der Übergang von (4) → (5) funktioniert ähnlich – beide Bilder stiften dennoch einen gewissen Grad an Verwirrung. Laut Text steigen die drei Spinnerinnen eine Treppe empor.[4] (4) zeigt nun aber weder die Treppe zur Dachkammer, noch die drei Spinnerinnen. Wie bereits erwähnt, führt die Treppe wundersamerweise ins Erdgeschoss, was sich an der Reihenfolge der in (5) eintretenden Damen verdeutlicht; sie entspricht der Reihenfolge in (4). Die Handlung baut aufeinander auf, trotz Raumwechsels bleibt die Szene identisch; das Text-Bild-Verhältnis ist textlastig, neue Informationen, die sich nicht im Text finden lassen, sind innerhalb der Bilder nicht auszumachen. Ein abrupter Zeit / Ortswechsel bleibt aus. Auf der McCloud-Realismuspyramide belegen die Zeichnungen des Bogens den Bereich 69 – 71, 81 – 83 sowie 92 – 94.
Analysetabelle anzeigen …Die drei Spinnerinnen. | |
Subpanel 1 | Bildmittelpunkt (BM): Vater und Tochter.
Fokus (F): Vater und Tochter. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Subpanel 2 | BM: Spindel.
F: Tochter. P: Augenhöhe |
Subpanel 3 | BM: Tochter und die drei Spinnerinnen.
F: Tochter und die drei Spinnerinnen. P: Augenhöhe |
Subpanel 4 | BM: Hochzeitsgesellschaft.
F: Hochzeitsgesellschaft. P: Augenhöhe |
Subpanel 5 | BM: kniende Person, weiblich.
F: Tochter bzw. Prinzessin. P: Augenhöhe |
Metapanel | BM: Haus.
F: Haus. P: Establishing Shot. |
Belege:
[1] Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Von dem bösen Flachspinnen. In: Kinder- und Hausmärchen (1812 – 15). S. 42.
[2] Vgl. hierzu: Grimm, Jacob und Wilhelm: Die drei Spinnerinnen. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 1. S. 97 – 99.
[3] Münchner Bilderbogen Nr. 541: Die drei Spinnerinnen.
[4] Vgl. Ebd.