In den Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt lassen sich einige besondere Bogen ausmachen, die in dieser Form nur im Stuttgarter Verlag zu finden sind. Zur Analyse liegen acht dieser Musikbogen vor, die einige strukturelle Besonderheiten aufweisen und den Analyseteil der Panelstrukturen beschließen. Alle Bogen adaptieren Volkslieder; somit erfolgt anstelle der texthistorischen Betrachtung eine musikhistorische.
Der letzte Musikbogen im Korpus illustriert Die Hussiten vor Naumburg. Der Deutsche Bilderbogen Nr. 218 basiert auf einem Volkslied, das in diversen Ausgaben des Deutschen Kommersbuchs abgedruckt wurde, wie etwa im Anhang einer Ausgabe von 1859. Der Verleger des Kommersbuchs weist darauf hin, dass es schwierig sei, „allen Wünschen der Studierenden nachzukommen“ und ein Anhang notwendig wäre, um diesen gerecht zu werden.
Ein großer Theil dieser Lieder wurde handschriftlich mitgetheilt oder von mehreren Seiten zugleich noch in Vorschlag gebracht, als der stereotypirte Satz bereits vollendet war. Da uns ihre Aufnahme noch geboten schien, so entschloß sich die Verlagshandlung zu diesem Anhang ohne Noten, also auch ohne Mitwirkung der Herren Silcher und Erk […].[1]
Der Hinweis auf die handschriftliche Übermittelung durch Studenten lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich die beigefügten Lieder großer Beliebtheit erfreuten, denn sie wurden von den Lesern des Kommersbuchs vermisst. Ein weiterer Vermerk zu Die Hussiten von Naumburg unterstützt diesen Eindruck: „Bekannte Melodie“.[2] Andere Kommersbücher, wie etwa die Leipziger Ausgabe nach Friedländer (hier: Friedlaender), drucken neben dem Titel des Liedes auch eine Partitur ab,[3] die sich jedoch in der Tonart unterscheidet (Kommersbuch: F, Bilderbogen: G).
Eine Besonderheit des Bogens stellt das Verhältnis von Panelstruktur, Begleittext / Partitur und Panelinhalt dar. Obschon mit sechs Strophen abgedruckt, gestaltete man nur drei Panels, die von einer Aststruktur und zwei seitlichen Lanzen umgeben sind und der westlichen Leserichtung (von links nach rechts und von oben nach unten) entsprechen. Diese Struktur teilt das Bild in zwei Realitätsebenen ein: Die des Panelinhalts und die der Panelstruktur. Der Panelinhalt befindet sich deutlich hinter der Rahmenstruktur, was sich besonders an Panel 1 verdeutlicht: Zu sehen sind der Turm einer Burg sowie eine Person, die aus einem Turmfenster schaut, den Rezipienten ansieht und ihm mit einem Finger vor dem Mund andeutet, still zu sein. Der Turm wurde von diversen Kriegern umstellt, ihre Füße sind, wie auch das restliche Gebäude, nicht zu sehen. Über dem Panel wurde ein Banner befestigt, auf dem sich die Partitur befindet; insbesondere die Textbanner, die Panel 2 umgeben, weisen auf eine perspektivische Staffelung hin. Auch sie winden sich um die Ast- / Panelstruktur und befinden sich deutlich vor dem Panelinhalt. Alle drei Panels erzeugen den Eindruck eines Guckkastenbildes, von dem nur ein kleiner Ausschnitt präsentiert wird. Besonders das letzte Panel erhärtet diesen Eindruck: Neben der Aststruktur wird es zudem von einer Steinstruktur umrahmt.
Analysetabelle anzeigen …Deutscher Bilderbogen Nr. 218: Die Hussiten zogen vor Naumburg. |
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Panel 1 | Text (T):
„Die Hussiten zogen vor Naumburg Ueber Jena her und Hamburg; Auf der ganzen Vogelwies Sah man nichts als Schwert und Spieß An die Hunderttausend.“
Bild (B): Eine vermutlich weibliche Person blickt aufmerksam aus einem Turmfenster und bittet den Rezipienten mit Hilfe einer Geste darum, still zu sein. Um die Turmspitze herum sind die marschierenden Hussiten zu sehen. Die Größe der Hussiten und die des Turmausschnitts sind nicht miteinander vereinbar. Fokus (F): Person, die aus Turmfenster schaut. Bildmittelpunkt (BM): Wappen an Turm. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene |
Panel 2 | T:
„Als sie nun vor Naumburg lagen, Kam darein ein großes Klagen; Hunger quälte, Durst that weh, Und ein einzig Loth Kaffee Kam auf 16 Pfenn’ge.“
B: Erwachsene stehen beieinander und wirken verzweifelt. Eine Person hält eine Kaffeemühle in den Händen, eine andere hebt eine Katze an den Beinen in die Höhe. Unter ihr befindet sich ein Hinweis auf die aktuellen Kaffeepreise (18 9/8). Hungernde Kinder streiten sich um Nahrung. F: Hungernde Menschen. BM: Mittlerer Mensch / Kinderkopf. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene |
Panel 3 | T:
„Als die Noth nun stieg zum Gipfel, Faßt die Hoffnung man beim Zipfel, Und ein Lehrer von der Schul Sann auf Rettung und versul Endlich auf die Kinder.
Kinder, sprach er, ihr seid Kinder, Unschuldsvoll und keine Sünder; Ich führ zum Procop euch hin, Der wird nicht so grausam sin, Euch zu massakriren.
Dem Prokopen thät es scheinen, Kirschen kauft er für die Kleinen; Zog darauf sein langes Schwert, Kommandirte: Recht umkehrt; Hinterwärts von Naumburg.
Und zu Ehren des Mirakel Ist alljährlich ein Spektakel: Das Naumburger Kirschenfest, Wo man’s Geld in Zelten läßt Freiheit, Victoria!“
B: Ein Lehrer führt die Kinder zum Prokopen vor die Stadt. F: Lehrer. BM: Stadt im Hintergrund. P: Augenhöhe. |
Der Bogen lässt sich in zwei Narrationsgruppen unterteilen. Gruppe 1, Panel 1 – 2: Schilderung der Situation sowie Gruppe 2, Panel 3: Gnade durch den Prokopen. Panelgruppen sind, wie die tabellarische Analyse zeigt, nicht vorhanden, denn Bewegungen oder längere erzählerische Ausführungen fehlen. Der Fokus des Zeichners liegt auf drei Strophen des illustrierten Liedes, wobei das dritte Panel – der Lehrer führt die Kinder zum Prokopen – mit Hilfe des Textes erweitert wurde. Die Bilddarstellung (Panel 3) wird durch den Text der Strophen 3 und 4 gestützt und der Rezipient erhält aus der Strophe 5 die Information, dass der Prokop den Kindern Kirschen kauft und den Hussiten befehligt, die Belagerung Naumburgs abzubrechen. Strophe 6 lässt den Rezipienten wissen, dass zur Zeit der Publikation des Bilderbogens immer noch jenem Tage durch ein Fest gedacht wird.[4] Diese Fixierung auf einzelne Momente des Liedes (Belagerung, hungernde Bewohner, Erlösung durch Lehrer / Prokopen) im Zusammenspiel mit der Reduktion des Bilderbogens auf drei Panels führt zu einer durchgängigen Verwendung der Induktionsmethode Von Szene zu Szene.
Ähnlich verhält es sich mit der Perspektive Auf Augenhöhe, die den gesamten Bogen bestimmt. Besonders in Panel 1 erscheint die Verwendung fragwürdig, denn die Größenverhältnisse der Hussiten im Vergleich zum ebenfalls abgebildeten Turm erscheinen unrealistisch (was im Gegensatz zum sonst realistischen Zeichenstil steht, der sich auf der McCloud-Realismusskala im Bereich 60 bis 64 und 80 bis 83 befindet), unterstreichen allerdings den Eindruck einer Belagerung. Wären Turm und Hussiten in realistischer Größenordnung abgebildet worden und hätte man überdies die Frosch- oder Vogelperspektive verwendet, wäre es zu einer Marginalisierung der Naumburger bzw. Hussiten gekommen. Durch eine Missachtung tatsächlicher Größenordnungen wirken beide Parteien gleichwertig.
Die Rezeptionsgeschwindigkeit der Bilder wird kaum von der Partitur beeinflusst. Eine Einheit zwischen Lied- und Bogenrezeption entsteht jedoch nicht. Panel 1 bis 3 überschneiden sich mit dem Text; besonders letzteres erfährt eine deutliche Erweiterung.
Bei den Musikbilderbogen der Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt handelt es sich, wie die Analyse zeigt, um einen bemerkenswerten Sonderfall, denn sobald die Rezeptionsgeschwindigkeit nicht mehr länger nur einem Text unterliegt, sondern durch eine Partitur beeinflusst wird, die zur Rezeption während des gemeinschaftlichen Singens auffordert, spielt Zeit neben der Räumlichkeit eine größere Rolle als in anderen Bilderbogen. Die Analyse weist auf zwei Arten des Musikbilderbogens hin. Musikbilderbogen Typ 1 weist eine Partitur auf, die in ein Panel eingefügt wird oder gesondert steht – weitere Strophen müssen dem Text zugeordnet werden. Zu ihm gehören Lob der edlen Musica, Bruder Straubinger, Schneider's Höllenfahrt, ’S war ’mal eine kleine Mann, Die Hussiten zogen vor Naumburg. Typ 2 beschreibt eine Partitur in Panel 1/2, weitere Strophen werden direkt unter das jeweilige Panel gedruckt und teilen ein Panel mit Bogenbreite in weitere Teilbereiche ein. Zu diesem Typ gehören Grad‘ aus dem Wirtshaus, Im schwarzen Wallfische zu Askalon und Hildebrand und Hadubrand. Zwei der drei Bogen wurden von Carl Ludwig Reinhardt geschaffen, dessen Stil sich deutlich weiterentwickelt und mit Lob der edlen Musica den Partiturbogen erfand, ein weiterer stammt aus der Feder Paul Konewkas und zeigt sich deutlich von ersterem beeinflusst.
Belege:
[1] Anhang. In: Allgemeine Deutsches Commersbuch. Lahr u. Leipzig 1859. S. 397.
[2] Bekannte Melodie. In: Allgemeine Deutsches Commersbuch. Lahr u. Leipzig 1859. S. 408.
[3] Vgl. Die Hussiten vor Naumburg. In: Kommersbuch. Leipzig o. J.. S. 47.
[4] Das Kirschfest von Naumburg gehört auch heute noch unter dem Namen Hussiten-Kirschfest zu den alljährlichen Festakten der Stadt. Vgl. Stadt Naumburg: Naumburger Hussiten-Kirschfest. http://hussiten-kirschfest.de/startseite.html [konsultiert am 10.05.2017].