In den Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt lassen sich einige besondere Bogen ausmachen, die in dieser Form nur im Stuttgarter Verlag zu finden sind. Zur Analyse liegen acht dieser Musikbogen vor, die einige strukturelle Besonderheiten aufweisen und den Analyseteil der Panelstrukturen beschließen. Alle Bogen adaptieren Volkslieder; somit erfolgt anstelle der texthistorischen Betrachtung eine musikhistorische.
Der Deutsche Bilderbogen Nr. 179, Hildebrand und Hadubrand, der vom Silhouettenschneider Paul Konewka stammt, adaptiert das Hildebrandlied von Joseph Victor von Scheffel, welches sich in Gaudeamus! Lieder aus dem Engeren und Weiteren verorten lässt.[1] Wieder einmal scheint das Lied zu verschiedenen Melodien gesungen worden zu sein. Im Allgemeinen Deutschen Commersbuch von 1883 findet sich eine Melodie von Franz Abt, die stark von der Bilderbogenpartitur abweicht.[2] Beide in der Tonart G und in einer verwandten Taktart (3/4 und 6/8) notiert, unterscheiden sich die Partituren erheblich voneinander. Bereits die fehlende Tempobezeichnung bei Konewka, die Abt mit „Mäßig schnell“[3] angibt, weist auf einen musikalisch weniger versierteren Umgang hin.
Abts Stück beginnt mit einer melodischen Aufwärtsbewegung von G zu D in Takt 1, es folgen drei Viertelnoten in G (Takt 2) und eine Abwärtsbewegung von Fis zu D (Takt 3), die in Takt 4 und nach dem fünften Takt (drei Viertelnoten in C, Harmoniestimme E) erneut mit einer anderen Tonfolge (E zu C, Harmoniestimme G zu E) verwendet wird. Eine Adaption des ersten Taktes mit begleitender Harmoniestimme und in der Tonfolge B, D, G (Harmonie: D, G, B), die in Takt 8 wiederholt wird, werden einer Viertelnoten-Aufwärtsbewegung in den Takten 9 bis 11 vorangestellt (D zu B); nach B erfolgt eine punktierte Halbe (D). Parallel zu B erfolgt in der Harmonie eine Abwärtsbewegung von G zu Fis. Nach einer Pause und einer erneuten Abwärtsbewegung von D zu Fis endet das Stück in einem oktavierten G.
Die anonyme, von Konewka verwendete Partitur verwendet hauptsächlich Achtelnoten und kann entweder von einem Piano begleitet (die Akkorde wurden beigefügt) oder vierstimmig gesungen werden. Das Stück beginnt mit drei Gs, es folgt eine Abwärtsbewegung von B zu G (Takt 1). Ein Ostinato aus Auf- und Abwärtsbewegung von oktavierten Ds bereitet eine Wiederholung des ersten Taktes vor; in Takt 4 beschließt eine punktierte Halbe den ersten Teil der Melodie. Takt 5 bis 7 imitieren Takt 1 bei C (5), B (6) und A (7) beginnenden. Takt 8 führt eine neue Bewegung ein, die in ähnlicher Tonfolge den ersten Takt bei Abt bildet, hier aber in Achteln notiert wurde und in einer punktierten Viertel auf G6 endet. Die letzten Takte kopieren Takt 5 bis 8; das Stück schließt in G5. Textlich unterscheiden sich beide Lieder kaum. Im Kommersbuch „soffen sich beid‘ einen großen Brand, großen Brand“,[4] während sie bei Konewka und Scheffel „tranken“.[5]
Analysetabelle anzeigen …Deutscher Bilderbogen Nr. 179: Hildebrand und Hadubrand. |
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Panel 1 | Text (T):
„1) Hil=de=brand und sein Sohn Ha=du=brand, Ha=de=brand rit=ten selb=ander in Wuth, rit=ten selb=an=der in Wuth ent=brannt, Wuth ent=brannt 2) Hil=de=brand und sein Sohn Ha=du=brand, Ha=du=brand kei=ner die Seestadt Ve=ne kei=ner die See=stadt Ve=ne=dig fand, ne=dig fand,“
Bild (B): Hildebrand und Hadubrand reiten durch eine Tierschar. Die zweite Person (im Bild links, vermutlich Hadubrand) hält eine Peitsche in der Hand. Beide tragen einen Degen an ihrer Seite. Bei den Tieren handelt es sich um Hühner, Hunde, Gänse und Schweine. Fokus (F): Hildebrand und Hadubrand auf ihren Pferden. Bildmittelpunkt (BM): Leer. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 2 | T:
„1) ge=gen die See=stadt Ve=ne=dig, rit=ten selb=an=der in Wuth ent=brannt, Wuth ent=brannt ge=gen die See=stadt Ve=ne=dig. 2) da schimpf=ten Bei=de un=flä=tig, kei=ner die See=stadt Ve=ne=dig, ne=dig fand, da schimpf=ten Bei=de un=flä=tig.“
B: Hildebrand benutzt ein Fernrohr, um Venedig zu erspähen, während Hadubrand einen Wanderer befragt. Erneut hält er eine Peitsche in der Hand. Eine unbeteiligte Person geht an Hadubrands Pferd vorbei (oder hält es fest). F: Hadubrand, der einen Wanderer befragt. BM: Wanderer. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 3 | T:
„Hildebrand und sein Sohn Hadubrand, Hadubrand, Ritten bis da wo ein Wirtshaus stand Wirtshaus stand, Wirtshaus mit kühlen Bieren.“
B: Hildebrand und Hadubrand reiten erneut durch eine Schar Tiere (ein Hund, mehrere Hühner, Gänse, Schweine) und erreichen ein Wirtshaus, das im Querschnitt abgebildet wurde. Der Querschnitt zeigt, wie sich die beiden Protagonisten betrinken.. F: Wandhänger mit Bierkrugsilhouette an der Front des Wirtshauses. BM: Hildebrand auf seinem Pferd. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | (2 → 3.1) Von Gegenstand zu Gegenstand (3.1 → 3.2) Von Gegenstand zu Gegenstand. (3.2 → 4) Von Szene zu Szene. |
Panel 4 | T:
„Hildebrand und sein Sohn Hadubrand, Hadubrand, Tranken sich bei‘ einen Riesenbrand, Riesenbrand, Krochen heim auf allen Vieren.“
B: Hadubrand kriecht vor seinem Pferd, Hildebrand folgt seinem Pferd und hält es am Schwanz fest. F: Die Pferde von Hildebrand und Hadubrand. BM: Leer. P: Augenhöhe. |
Der Deutsche Bilderbogen Nr. 179 besteht aus vier nicht umrahmten Hauptpanels, von denen die ersten beiden von einer Partitur begleitet werden. Im dritten Panel weicht die Struktur einmalig ab, denn es findet eine Simultandarstellung statt: Während zwei Drittel des Panels die Ankunft der Protagonisten am Wirtshaus zeigen (3.1), finden sie sich im restlichen Bild (3.2) betrunken in eben jenem wieder. Die Bilder sind mit Hilfe der Induktionsmethode Von Gegenstand zu Gegenstand verbunden; einzig der Übergang vom Wirtshaus zum vierten Panel muss als Von Szene zu Szene interpretiert werden, denn das Besäufnisse dauert länger als der Übergang von 3.1 zu 3.2 (Ankunft am / Betreten des Wirtshauses).
Konewka verwendet die gleiche Struktur wie Reinhardt in Grad‘ aus dem Wirtshaus: Besonders die ersten beiden von der Partitur begleiteten Panels orientieren sich an der musikalischen Rezeption. Anders als bei Reinhardt sind die Panels hier doppelt belegt, d. h. Panel 1 und 2 illustrieren die Strophen 1 und 2, was sich bildlich nicht wiederspiegelt. Panel 1 präsentiert die Protagonisten auf ihrem Ritt, Panel 2 zeigt sie beim Versuch, sich zu orientieren. Somit gibt Panel 1 den Inhalt der ersten, Panel 2 den Inhalt der zweiten Strophe wieder. Eine sinnvolle Doppelverwertung (ein Bild lässt sich so interpretieren, dass es zu beiden Zeilen passt) des Bildes findet nicht statt. Panel 3 unterteilt das Bild dann dem goldenen Schnitt entsprechend in zwei Simultanbilder. Der Text findet sich, wie auch in Panel 4, unter jedem Bilddrittel (1. Drittel: „Hildebrand und sein Sohn Hadubrand, Hadubrand“, 2. Drittel: „Ritten bis da wo ein Wirtshaus stand Wirtshaus stand,“, 3. Drittel: „Wirtshaus mit kühlenden Bieren.“)[6] – das Bild wird gedoppelt. Das 1. Drittel und 2. Drittel des Bildes bilden während des Rezeptionsvorgangs eine Einheit mit Überschneidung (Rot 1). Während im 1. Drittel der Darstellung nur Hadubrand und im 2. Drittel nur Hildebrand zu sehen sind, wird im ersten Textteil explizit auf beide Protagonisten verwiesen, d. h. das 1. Drittel und das 2. Drittel des Panels werden gemeinsam rezipiert.
Der Text unter dem 2. Drittel des Bildes verweist erneut auf beide Bildinhalte, zeigt Hildebrand direkt vor dem Wirtshaus, dessen Schild ins 2. Drittel hineinragt und ihn zum Anhalten zwingt (Blau 2). Eine Illustration des gemeinsamen Trinkgelages findet sich indes im 3. Drittel des Panels. Es steht losgelöst vom restlichen Teil des Panels (Weiß 3).In Panel 4 verlaufen Text und Bild in entgegengesetzte Richtungen: Beim Lesen des Textes bewegen sich die Augen von links nach rechts, die Rezeption des Bildes müsste, den Angaben des Textes entsprechend, von rechts nach links erfolgen, denn Hadubrand wird als erste Person genannt, befindet sich aber ganz rechts im Bild. Eine weitere Möglichkeit der Rezeption wäre eine Gesamtwahrnehmung, die aber, ob des Begleittextes, der das Bild erneut drittelt, strukturell ausgeschlossen werden kann.
Panelgruppen lassen sich nicht bestimmen, dennoch sind drei Narrationsgruppen vorhanden: Ritt zum Wirtshaus (Gruppe 1, Panel 1 bis Panel 3, Teil 2), Trinkgelage (Gruppe 2, Panel 3 Teil 3) und Heimkehr (Gruppe 3, Panel 4). Auf der McCloud-Realismusskala belegt der Bogen den Bereich 8 – 9 sowie 16 – 20.
Paul Konewkas Beiträge zum Konvolut der Deutschen Bilderbogen, bei denen es sich ausschließlich um Silhouettenbilder handelt,[7] unterscheiden sich in einem Punkt von anderen Bogen: Aufgrund ihrer schemenhaften Beschaffenheit, der Darstellung sämtlicher Objekte und Lebewesen als monochromes Schattenbild, bleiben Kulissen vage bis unkenntlich. Dem Rezipienten entgeht auf bildlicher Ebene der Handlungsort, was sich auch an Hildebrand und Hadubrand verdeutlicht. Lediglich der Text gibt Aufschluss, dass man sich auf dem Weg nach Venedig befände –[8] wo ihre Reise begann und welche Route sie nehmen, bleibt verborgen.
Bei den Musikbilderbogen der Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt handelt es sich, wie die Analyse zeigt, um einen bemerkenswerten Sonderfall, denn sobald die Rezeptionsgeschwindigkeit nicht mehr länger nur einem Text unterliegt, sondern durch eine Partitur beeinflusst wird, die zur Rezeption während des gemeinschaftlichen Singens auffordert, spielt Zeit neben der Räumlichkeit eine größere Rolle als in anderen Bilderbogen. Die Analyse weist auf zwei Arten des Musikbilderbogens hin. Musikbilderbogen Typ 1 weist eine Partitur auf, die in ein Panel eingefügt wird oder gesondert steht – weitere Strophen müssen dem Text zugeordnet werden. Zu ihm gehören Lob der edlen Musica, Bruder Straubinger, Schneider's Höllenfahrt, ’S war ’mal eine kleine Mann, Die Hussiten zogen vor Naumburg. Typ 2 beschreibt eine Partitur in Panel 1/2, weitere Strophen werden direkt unter das jeweilige Panel gedruckt und teilen ein Panel mit Bogenbreite in weitere Teilbereiche ein. Zu diesem Typ gehören Grad‘ aus dem Wirtshaus, Im schwarzen Wallfische zu Askalon und Hildebrand und Hadubrand. Zwei der drei Bogen wurden von Carl Ludwig Reinhardt geschaffen, dessen Stil sich deutlich weiterentwickelt und mit Lob der edlen Musica den Partiturbogen erfand, ein weiterer stammt aus der Feder Paul Konewkas und zeigt sich deutlich von ersterem beeinflusst.
Belege:
[1] Vgl. Scheffel, Joseph Victor: Das Hildebrandlied. Hiltĭbraht entĭ Hadhubrant. In: Joseph Victor von Scheffels sämtliche Werke. Mit acht Kunstbeilagen nach Gemälden von E. Grützner, A. Liezenmayer, Anton von Werner u. a., einer Karte und drei Handschriften. Leipzig 1916 (=Band 4; Gaudeamus). http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/scheffel_sw4/0036 [konsultiert am 25.04.2017].
[2] Vgl. Das Hildebrandlied. Auch nach: Wenn ich dich bei mir betrachten thu. In: Allgemeine Deutsches Commersbuch. Lahr u. Leipzig 1883. S. 536.
[3] Vgl. Ebd. S. 536.
[4] Ebd. S. 536.
[5] Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 179: Hildebrand und Hadubrand. Und: Scheffel, Joseph Victor: Das Hildebrandlied.
[6] Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 179: Hildebrand und Hadubrand.
[7] Vgl. Korpus 141, 204, 237 und 283.
[8] Vgl. Korpus 303.